Vielfalt als System

 

Text von Hendrik Neukirchner in „KUNSTPFADE - Entdeckungen in der Thüringer Kunstlandschaft“, 2010

 

Vielschichtig ist das Auftreten des Weimarers in der Öffentlichkeit. Weit ist sein künstlerisches Betätigungsfeld. Klaus Nerlich hat viele Facetten. Er ist Grafiker, Maler, Fotograf, Professor an der Fachhochschule Erfurt, Sprecher des Verbandes Bildender Künstler Thüringen, Kursleiter an der Mal- und Zeichenschule Weimar, Mitglied der Architektenkammer, Mitarbeiter in und an verschiedensten Projekten und nicht zuletzt auch Organisator von Zeichen-Radtouren auf den Spuren Lyonel Feiningers.

Die Struktur und Ordnung in Nerlichs Atelier an der Ackerwand inmitten der Weimarer Innenstadt ist bezeichnend, beides gehört zu ihm als Person genau so wie zu seinen Aktivitäten. Sein Arbeitsbereich besteht aus zwei Räumen, an den toskanafarbenen Wänden laden zahlreiche Fotografien, Zeichnungen und Malereien zum Betrachten ein. Computer, Bildschirm, Faxgerät, Drucker, Fotoapparat, Planschränke, Bücherregale, eine große Arbeitsplatte, ein futuristischer Drehstuhl, Büromaterial, Musik-CDs, mehrere Schreibtischlampen, ein Tablett, eine von der Decke baumelnde Glühbirne – alles hat seinen Platz und seine Funktion. Hier, wo einst Herzogin Anna Amalias Koch lebte, wohnt er und betreibt zusammen mit seiner Frau die Galerie KUNST-RAUM, in der er regelmäßig eigene Arbeiten ausstellt.

Klaus Nerlich wurde 1952 in Erfurt geboren. Er studierte Architektur an der Hochschule für Architektur und Bauwesen, der heutigen Bauhaus-Universität, in Weimar. Ein Zweitstudium führte ihn nach Leipzig an die Hochschule für Grafik und Buchkunst. 1984 wurde er Kursleiter an der 1774 gegründeten und von Goethe unterstützten Mal- und Zeichenschule, deren Vorsitzender er ab 1996 zehn Jahre lang war. Nerlich wurde in den Verband Bildender Künstler der DDR aufgenommen und arbeitete als Assistent an der Bauhaus-Universität Weimar. 1991 übertrug ihm die Fachhochschule Erfurt die Professur für Gestaltung im Fachbereich Architektur und er initiierte das Nerlich-Atelier für Gestaltung.

„Im Gegensatz zu vielen Künstlerkollegen war ich nie freiberuflich tätig, sondern immer angestellt und nebenberuflich Künstler“, sagt Nerlich, dessen Markenzeichen sein grauer Vollbart ist. „Es war von Anfang an meine Intention, mein Hobby zum Beruf machen zu können.“ Als Sprecher des Verbandes Bildender Künstler Thüringen setzt er sich für seine Kollegen ein. Er weiß um die Nöte, Ängste und Probleme vieler seiner Verbandsmitglieder. „Weil ich durch die Professur mein Geld verdiene, kann ich es mir leisten, diesen Vorteil im Ehrenamt zurückzugeben, dafür setze ich gern meine Zeit ein. In allen Gesprächen mit Entscheidungsträgern in den Fachministerien und Verbänden spreche ich ausschließlich Angelegenheiten und Schwierigkeiten der freiberuflichen Künstler an. Es geht mir nicht um mich, denn ich bin gesichert.“ Mit nachdenklicher Miene fügt er hinzu: „Künstler müssen nicht reich werden, aber sie müssen von ihrer Kunst leben können. Das ist unser oberstes Gebot. Wir versuchen“, und damit meint Nerlich die gesamte Verbandsspitze, „fast schon penetrant, überall Mittel zu akquirieren. Unsere Gesellschaft braucht Kunst und Kultur, aber im Umkehrschluss muss diese Gesellschaft Möglichkeiten schaffen, Kunst auch ausführen zu können. Wir, die Künstler, sind diese Ausführenden“. So hat der Verband für die nahe Zukunft viele Ziele, zum Beispiel Künstler stärker an die Schulen anzubinden, Arbeitsfelder wie Kunst am Bau zu sichern oder die Urheberrechte, gerade der Fotografen, zu stärken. Zudem muss selbstverständlich werden, dass Künstlern die Vorbereitung von Ausstellungen nicht umsonst abverlangt werden kann und dass vernünftige Ausstellungshonorare reelle Gegenleistungen sind. „Schließlich“, so Nerlich weiter, „erhält jeder Musiker, der bei einer Vernissage spielt, ein Honorar, nur die ausstellenden Künstler selbst nicht“. Er weiß um die sozialen und familiären Spannungen, die entstehen können, wenn Künstler für viel Leistung kaum das für ein Existenzminimum notwendige Einkommen erhalten.

Künstlerisch bekennt sich Klaus Nerlich zur Tradition der Weimarer Malschule mit ihren pleinairistischen Methoden. Er arbeitet oft und viel, der überwiegende Teil seiner Zeichnungen entsteht als Freilichtmalerei. Hat er Zeit, packt Nerlich seine Taschen und geht raus in die Natur. Hier lässt er sich überraschen, nimmt Situationen, Begebenheiten, Besonderheiten, Menschen, Landschaften und Details mit seinem Blick auf und lässt sich inspirieren. „Dann wird durchgearbeitet, bis es stimmt.“ Er hat keine Scheu, in der Stadt vor all den Menschen zu zeichnen. Seine Motive sind hauptsächlich Landschaften, Architekturen und städtische Momentaufnahmen. Bisweilen gesellen sich dazu Körper, meist Akte. Nerlich gibt dabei das Gesehene nicht naturalistisch wieder. Er will nichts abzeichnen. Vielmehr zwingt er jedem Motiv seine Sicht auf, zeigt es so, wie er es sehen will. Der Betrachter schaut im Ergebnis fasziniert durch den Nerlichschen Filter. Interessante, reizvolle Strukturen bieten sich ihm überall in seiner Umgebung. Sei es in Thüringen, an der Ostsee oder auf den Azoren. Mit Kohle oder Bleistift, mit Feder oder Steinkohle bearbeitet er das Papier, ritzt Linien ein, graviert die Oberfläche. So ist in den letzten Jahren eine Fülle an großformatigen Bildern entstanden, die mit scheinbarer Leichtigkeit gezeichnet sind und vor Lebendigkeit und visueller Schärfe geradezu strotzen.

„Neben dem Zeichnen ist die Fotografie für mich eine weitere Notwendigkeit. Ich fotografiere, also bin ich.“ Nerlichs Ziel ist es, das was man sieht, zu verändern, in andere Kontexte zu setzen.

„90 Prozent meiner Fotos sind nachträglich am Computer manipuliert. Dadurch entstehen neue Sichten auf diese Welt. Dem Foto wird der dokumentarische Aspekt gestohlen. Ich versuche also, das Objektive der Fotografie zu hinterfragen. Mit dieser Vorgehensweise verändert sich die Sicht auf Raum und Zeit.“ Egal ob in Projekten wie ‚Multivision’, ‚Begegnungen’ und ‚Landschaften’ oder in seinen Panoramen und Portraits – stets fordert Nerlich sein Publikum zum Überdenken der eigenen Standpunkte, zur Auseinandersetzung mit der trügerischen Realität auf.

Nerlich ist ständig auf der Suche nach Neuem, nach Spontaneität im Leben und Schaffen. Prozesse in jeglicher Form reizen ihn. Arbeit bedeutet ihm zugleich Erholung und sein umfangreiches Betätigungsfeld ist das sichere Fundament seines Tuns. „Ich brauche diese Vielfalt! Ich kann nicht anders, sondern muss es genau so tun. Ich muss zu den Studenten, muss Projekte besprechen, muss Radtouren begleiten, muss Reisen planen, muss Freunde treffen. Die Kommunikation mit anderen Menschen gibt mir Anschub für neue Ideen. Mich begeistern diese vielen und unterschiedlichen Einflüsse und Abläufe. Ich komme damit gut zurecht und kann und will nichts ablehnen.“

 

Bei Klaus Nerlich ist die Vielfalt das System.